Fernsehen als kulturelles Lagerfeuer

Die Bedeutung des linearen Fernsehens für jüngere Generationen
Zukunftsforscher Tristan Horx im Interview

Foto: vyhnalek.com

Tristan Horx (Jahrgang 1993) ist einer der bekanntesten Zukunftsforscher der jüngeren Generation. Für das Magazin „1080“ hatten unsere Kollegen von HD+ die Möglichkeit, ihn im Rahmen eines Interviews zum Thema Fernsehen zu befragen. Erfahren Sie Spannendes über die Sehgewohnheiten jüngerer Generationen und warum er weiter an die Zukunft des linearen Fernsehens glaubt:


Du bist in einer Zeit aufgewachsen, als das Internet seinen Aufschwung erlebte. Dennoch war das Fernsehen ein wichtiger Teil deiner Kindheit. Gibt es ein besonderes Fernseherlebnis, das dir in Erinnerung geblieben ist?

Ein prägendes Ritual meiner Kindheit war, am Wochenende morgens mit meinem Bruder eine halbe Stunde MTV zu schauen. Weil wir das nicht immer durften, war schon die Vorfreude riesig. Und das, obwohl wir dann auch jede Menge Videos sahen und Musik hörten, die wir eigentlich doof fanden. Heutzutage wird ja meist nur noch das geschaut, was man auch wirklich gut findet.

Welche Art von Bildinhalten bevorzugen jüngere Generationen heute?

Ein weitverbreitetes Vorurteil besagt, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Jüngeren gesunken ist und sie deshalb nur noch kurze Videos etwa auf TikTok konsumieren. Studien zeigen jedoch, dass die individuelle Aufmerksamkeitsspanne weitgehend unverändert geblieben ist. Was allerdings viel gesehen wird, ist, was ich gerne als „Trash-TV“ bezeichne ¬– Inhalte, über die man sich aufregen kann, um sich selbst davon zu distanzieren. Das ist eine Kulturform, die mittlerweile sehr präsent ist. Zudem lässt sich sagen, dass jüngere Generationen kürzere Inhalte, die personenbezogen sind, bevorzugen. Es geht oft mehr um die Verbindung zum Host oder zum Inhaltskurator als um den eigentlichen Inhalt. Ein interessantes Beispiel ist Rezo, ein Gamer, der schon mehrfach hochpolitische Inhalte produziert und damit große Aufmerksamkeit erzielt hat. Das zeigt, dass die jüngere Generation durchaus tiefgründige Inhalte schätzt und konsumiert.

Laut aktuellen Zahlen erreicht das Fernsehen fast alle Altersgruppen. Überrascht dich das?

Nein, überhaupt nicht. Die Grenzen zwischen traditionellem Fernsehen und Online-Plattformen verschwimmen immer mehr. Wenn ich beispielsweise ein Interview im ARD oder ORF gebe, wird dieses oft in kurze Clips für Social Media aufgeteilt. Viele sagen mir dann, sie hätten mich „im Fernsehen“ gesehen, obwohl sie nicht die gesamte Sendung verfolgt haben. Der Ausdruck „im Fernsehen gesehen“ hat heute eine andere Bedeutung. Es geht weniger um das tatsächliche Fernsehgerät und mehr um den Inhalt, der oft mit der Qualität eines bestimmten Senders verbunden wird. Bei älteren Generationen mag die Bindung zum Fernsehgerät stärker sein, aber bei jüngeren Menschen hat sich die Bedeutung in Richtung Inhalt verschoben.

Woher rührt die Liebe älterer Generationen zum Fernsehgerät?

In der Boomer-Generation der zwischen 1946 und 1964 Geborenen wurden viele Sendungen wie „Wetten, dass ...?“, „Tatort“ oder auch „Hitparade“ noch gemeinsam mit der Familie oder mit Freunden angesehen. Um 20 Uhr saß halb Deutschland gemeinsam vor dem Fernsehgerät. Für diese Generation ist der Fernseher daher so etwas wie ein „kulturelles Lagerfeuer“, um das herum man sich noch heute gerne versammelt.

Würdest du auch vom „kulturellen Lagerfeuer“ sprechen, wenn sich jüngere Generationen treffen, um beispielsweise gemeinsam „Germany´s Next Topmodel“ zu schauen?

Ja, denn die Sendung schafft es, eine wichtige soziale Funktion zu erfüllen: das Lästern über andere. „Gossip keeps the tribe together“, heißt es im Englischen, also „Klatsch und Tratsch hält eine Gruppe zusammen“. Indem wir lästern, klären wir unsere eigenen Positionen und festigen sie. Das funktioniert bei „Germany´s Next Topmodel“ auch deshalb so gut, weil wir die Personen, über die wir lästern, nicht persönlich treffen. Dann wären wir vorsichtiger. So aber schafft die Sendung einen geschützten Raum, in dem wir uns in der Gruppe über unsere Meinungen und Werte austauschen können. Werden Sendungen von Jung und Alt gesehen, funktioniert das auch generationsübergreifend. Wenn beim „Topmodel“ oder im „Tatort“ beispielsweise eine Transperson auftritt, können sich Großeltern, Eltern und Kinder darüber unterhalten, wie sie dazu stehen. Es geht also nicht um das Lästern an sich, sondern um das, was dahintersteckt: In solchen Momenten schafft es das Fernsehen immer noch, gesellschaftliche Haltungen auszutarieren.

Mit Blick auf andere Medien wie Social Media und Streamingdienste, wo siehst du den Platz des Fernsehens in Zukunft?

Im heutigen multimedialen Medienkosmos wird das lineare Fernsehen ein Teilelement sein, und zwar ein nicht zu kleines. Aber es wird nicht mehr das dominante Medium sein, das es früher war. Dieser Prozess wird auch als „Technolution“ bezeichnet, also als Evolution von Technologien: Eine alte Technologie wird durch neue Technologien auf ihre Stärken zurückgeführt. Noch vor Kurzem sah es so aus, als ob bei Bildinhalten alles auf Streaming hinauslaufen würde. Doch jetzt sehen wir, dass das goldene Zeitalter der Streaming-Dienstleister wohl schon wieder zu Ende ist. Das Geschäftsmodell, unendlich viele Inhalte anzubieten, war aus ökonomischer Sicht ohnehin nicht zukunftsfähig und implodiert ja gerade auch. Ich sehe die Medienlandschaft derzeit insgesamt in einer Übergangs- beziehungsweise Findungsphase. Und die braucht es auch. Die große Stärke des linearen Fernsehens aber bleibt, dass es über einzelne Milieus und soziale Blasen hinweg Menschen erreichen und miteinander verbinden kann. Fernsehen festigt Gemeinsamkeiten.

Welches Fernseherlebnis möchtest du persönlich auch in Zukunft nicht missen?

Es gibt eine Sendung in Österreich namens „Liebesg´schichten und Heiratssachen“. Sie stellt ältere Bürger auf Partnersuche vor. Die Sendung ist ehrlich, empathisch und emotional. Das ist ein Kontrast zu vielen anderen Inhalten und erinnert an die Menschlichkeit und Empathie, die Medien vermitteln können. Das möchte ich nicht missen.

Dieser Text ist im Magazin „1080“, Ausgabe 2023, von HD+ erschienen.